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Paartherapeut: Öfter mal schweigen statt alles ausdiskutieren

Arnold Retzer ist Psychotherapeut, Paarberater und Autor. Seine Bücher tragen Titel wie «Lob der Vernunftehe: Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe» oder «Miese Stimmung: Eine Streitschrift gegen positives Denken». Wer die Nummer des Systemischen In­stituts Heidelberg wählt, erwartet deshalb einen, der gleich lospoltert, einen Experten auf Konfrontationskurs. Am Telefon dann: ein freundlicher Mann mit angenehmer Stimme, der sich als erstes entschuldigt: Er neige dazu, viel zu schnell zu reden. Man solle ihn doch bitte ungehemmt unterbrechen, falls das im folgenden Gespräch der Fall sein sollte.

Gelassenheit dem andern und sich selbst gegenüber

Eigentlich schliessen sich Ehe und Liebe aus, schreibt Retzer in seinem Buch zur Vernunftehe. Eine vernünftige Ehe, so wie er sie definiert, brauche sich nicht für das eine oder das andere zu entscheiden, sondern bediene sich nach Bedarf des einen oder anderen. Es gehöre zudem zu jeder Beziehung dazu, dass so manche Erwartung enttäuscht, so mancher Anspruch nicht erfüllt werde. Die Fähigkeit, eine Ehe mit all ihren Einschränkungen zu ertragen, nennt er: resignative Reife. Was erst einmal ziemlich deprimierend klingt, versteht der Psychotherapeut viel mehr als gelassene Haltung dem anderen, der Beziehung und schliesslich auch sich selbst gegenüber. Aufgrund der Kürze unseres Lebens könnten wir uns es gar nicht leisten, das Unvollkommene auszuschlagen. Die Ehe sei schliesslich einfach ein realistischer Versuch auf Erden, das an erfüllter intimer Gemeinschaft zu erreichen, was uns vielleicht besser bekomme als das Alleinsein.

Arnold Retzer, Psychotherapeut, Paarberater und Buchautor.

Herr Retzer, seit bald 40 Jahren beraten Sie Paare in Krisen. Haben wir heute mehr Beziehungsprobleme als früher?

Ja, das sehe ich in meiner Praxis ganz deutlich. Probleme sind ja eigentlich nichts anderes als die negative Differenz zwischen dem Soll- und Ist-Wert in einer Beziehung – der Abstand zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Mein Eindruck ist, dass diese Distanz enorm zugenommen hat. Wir haben heute viel mehr und höhere Erwartungen. Die Realität kann da nicht standhalten.

Was für Erwartungen sind das?

Meistens geht es um Glück und Sexualität.

Einerseits scheint aus der gewonnenen Freiheit in der Sexualität geradezu eine Pflicht zur Sexualität geworden zu sein.

Andererseits setzen wir Beziehung mit Glück gleich. Wir erhoffen uns nicht nur von unserem Partner, dass er uns glücklich mache, sondern machen uns auch für das Glück unseres Partners verantwortlich. Wir sind der Idee verfallen, Glück sei nicht etwas, das geschieht, sondern etwas, das machbar ist. Es ist ein Problem unserer Zeit, dass wir das Gefühl haben, stets glücklich sein zu müssen und versagt zu haben, wenn uns das nicht gelingt. Das führt dazu, dass wir unsere Beziehungen ständig beobachten und schon kleinste Abweichungen als Problem wahrnehmen. Das kann Paare erheblich belasten.

Sie finden im Gegenteil: Paare sollten keinesfalls Konflikte und Streit vermeiden.

Der Zwang zur Harmonie bestellt den Boden, auf dem irgendwann der Ekel gedeiht. Er entsteht da, wo Ärger und Unzufriedenheit heruntergeschluckt werden müssen und Auseinandersetzungen keinen Platz haben. Dann fällt einem nach 15 Jahren Ehe plötzlich auf, wie unappetitlich der andere offenbar isst. Es kommt zu einer vollständigen Neubewertung des Partners, den wir, ähnlich wie am Anfang einer Beziehung, auf einmal sehr einseitig wahrnehmen. Nur sehen wir jetzt ausschliesslich die negativen Eigenschaften.

Sie erzählen in Ihrem Buch von einem Klienten, der mit dem Brotmesser auf seine Frau losging, weil er sich von ihr bevormundet fühlte. Im Gefängnis, aus der Distanz, sehnte er sich bald wieder nach ihrer Nähe, und auch sie vermisste ihn. Können und sollen zwei Menschen selbst nach so dramatischen Konflikten erneut zusammenfinden?

Das sind zwei Fragen, deshalb: Ja, natürlich entscheiden sich Menschen auch nach derartigen Auseinandersetzungen wieder füreinander. Aber ob sie das auch sollen? Das muss jedes Paar für sich ausmachen. Ich habe dieses Beispiel gewählt, weil ich einen grundlegenden Widerspruch in jeder Beziehung zeigen wollte: die Sehnsucht nach Verbundenheit und der Wunsch nach Autonomie. Dieser Konflikt lässt sich nicht auflösen, es kann den beiden Bedürfnissen höchstens abwechslungsweise Genüge getan werden. Jeder Versuch, nur eines davon zuzulassen, führt irgendwann zu einem Kollaps.

Bei Alltagsstreitereien raten Sie: mehr Humor. Man könne sich in einer Diskussion ja mal eine Clownnase aufsetzen. Oder demonstrativ mit dem Kühlschrank plaudern, wenn der Partner einem die kalte Schulter zeige. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu solchen Spässchen aufgelegt wäre, wenn mein Mann mir gerade auf die Nerven geht.

Ich will mit diesen Vorschlägen sagen: Es lässt sich nicht immer alles mit Reden lösen.

Sollten wir nicht öfter versuchen, stattdessen mehr Leichtigkeit in unsere Beziehung und das Leben zu bringen?

Wer sich einen dauerhaften Partner aussucht, sucht sich eben auch ein paar dauerhafte Probleme aus. Da ist keine Lösung manchmal auch eine Lösung. Ständig wird Paaren geraten, alles auszudiskutieren. Das halte ich für Quatsch.

Wirklich? Das Gespräch ist nicht so wichtig?

Natürlich gehört das Reden zu einer Beziehung. Man sollte es nur nicht überschätzen und für den Königsweg zum Lösen von Problemen halten. Paare, die schon sehr lange zusammen sind, wissen, wovon ich rede. Junge Menschen empfinden manchmal fast Mitleid mit Ehepartnern, die einander im Restaurant schweigend gegenübersitzen. Ich finde: Da steckt viel Weisheit dahinter. Ein Journalist hat einmal den Titel «Klappe halten und aufs Meer schauen» über einen Artikel gesetzt, den er über mein Buch geschrieben hat. Das finde ich ziemlich gut auf den Punkt gebracht.

Sind wir denn zu ernst?

Auf jeden Fall. Dort, wo wir die Dinge zu ernst nehmen, ist der Tod nicht weit, heisst es. Es fehlt die Möglichkeit, uns von Dingen zu distanzieren. Aber das Leben wird erst leichter, wenn wir einen gewissen Abstand zu uns selbst und unseren Problemen schaffen.

Sie schreiben aber auch, dass Streit und Konflikte in langen Beziehungen eher abnehmen.

Man weiss irgendwann um die Eigenheiten des anderen und diskutiert nicht mehr täglich alles aus. Es gibt aber auch Zeiten, in denen Konflikte tendenziell wieder zunehmen. Wenn aus einem Paar Eltern werden zum Beispiel, ein Haus gebaut wird oder die Pensionierung ansteht. Gerade nach dem Auszug der Kinder steht die Frage im Raum: Hat das Projekt Paarbeziehung nun seinen Zweck erfüllt, oder wollen wir auch den nächsten Abschnitt zusammen gehen?

Eine langjährige Ehe ist ja eine Aneinanderreihung verschiedener Beziehungen mit demselben Partner.

Jedes Mal, wenn sich Lebensbedingungen verändern, ist die Chance gross, dass unterschiedliche Erwartungen aufeinandertreffen, die für Auseinandersetzungen sorgen.

Wann ist es besser, eine Beziehung zu beenden?

Solche Empfehlungen stehen mir nicht zu. Ich habe in all den Jahren schon so viele unterschiedliche Arten von Paarbeziehungen gesehen, die mit dem Leben vereinbar sind, dass ich sehr zurückhaltend geworden bin mit Normvorstellungen. Manchmal sage ich Paaren in meiner Praxis aber absichtlich: «Sie haben recht. Ihre Beziehung hat keine Chance mehr.» Das weckt in ihnen den Reflex zu widersprechen. Nun können sie mich davon überzeugen, dass es durchaus noch Hoffnung gibt für ihre Beziehung und längst nicht alles schlecht ist. Viele Paartherapeuten predigen ihren Klienten ja das Gegenteil, dass alles gar nicht so schlimm sei. Das halte ich für keine gute Idee. Paare geraten so in eine «Ja, aber»-Haltung, in der sie darzulegen versuchen, warum ihre Ehe eben doch für gescheitert erklärt werden muss. Entscheidend ist aber sowieso nicht, dass der Psychotherapeut der Beziehung eine Chance gibt – sondern das Paar.

Quelle: luzernerzeitung.ch

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