Kultur

Warum Ost- und Westeuropa auseinanderdriften

Weshalb können Ost- und Westeuropa nicht zusammenkommen, driften wieder stärker auseinander, obwohl 1989 so viel Hoffnung bestand? Péter Nádas, der Ungar, sucht in seinen Essays aus den Jahren 1989 bis 2014 behutsam, poetisch, politisch, gesellschaftskritisch nach Antworten und ist vorausschauend geradezu aktuell. Er beginnt mit einer «Ortsbestimmung», den Erfahrungen im dörflichen Leben im südungarischen Gombosszeg, wohin er sich 1968 zurückgezogen hat zum Nachdenken und Schreiben. Er beobachtet die Dorfbewohner, die kollektiv handeln, nachbarschaftlich loyal, doch ihre Welt endet hinter dem nächsten Hügel. Wozu sollen sie global denken? Péter Nádas hingegen, der auch Westeuropa gut kennt und Romane wie «Parallelgeschichten» und «Aufleuchtende Details» geschrieben hat, kann erst mit Schreiben beginnen, nachdem er die Realität erfahren hat, das eigene Leben und das der anderen.

Warum weint Leni Riefenstahl?

Auch der Einblick in die Natur der Schöpfung könne nicht schaden, meint Péter Nádas. Grenzen überschreiten sowieso. Denn so wird die Welt nie eng, selbst dann nicht, wenn er aus dem Fenster seines Hauses im Dorf Gombosszeg in den eigenen Garten blickt und dabei die Natur und unsere Vergänglichkeit als Konstante entdeckt. Er, der in eine jüdische Familie hineingeboren, aber als Kind protestantisch getauft wurde, reflektiert und beobachtet nicht nur die Welt von gestern und heute, auch sich selber als Schreibenden und seinen Blick als Fotograf auf die Welt. Er sucht die «Körperwärme der Schriftlichkeit». Der Essay, der dem Buch den Titel gibt, «Leni weint», ist eine beklemmend sarkastische Interpretation der Filmerin und Fotografin Leni Riefenstahl, einer Freundin Hitlers, die angesichts ermordeter Juden weint. Dem Thema Mensch als Ungeheuer ebenso wie dem Menschen als «Schöpfer und Überlebender» sind Essays gewidmet und natürlich der Kunst. Wunderbar seine Selbstbeobachtung beim Betrachten von Monets «Seerosen» im Museum.

Wie sich das Verhalten der Menschen im Dorf vor und nach der Wende kaum unterscheiden, sind auch die longue durée der Geschichte und deren Unterschiede zwischen Ost und West trotz offener Grenzen nicht wegzuwischen. Nádas stellt in Ungarn fest, dass die Bevölkerung nicht dafür gekämpft hat, die alte Ordnung hinwegzufegen. Es gab 1989 keine Revolution. Es sei der Zusammenbruch der Sowjetunion, der die Grenzen geöffnet habe.

Und dann wussten die Menschen nicht, wie Demokratie funktioniert. Sie waren an Mangelwirtschaft gewöhnt. Ihre Erfahrungen in der Diktatur taugten nicht für das Leben im Kapitalismus. Der Hass auf fremde Macht werde weiterhin gepflegt. Aber auch der Westen hat seine Kalte-Krieg-Vergangenheit zu wenig unter die Lupe genommen.

Péter Nádas: Leni weint. Essays. Rowohlt, 528 S., Fr. 52.-

Quelle: luzernerzeitung.ch

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