Sozium

Entschleunigte Erkenntnisse

An meinem Beruf als Schriftstellerin gefällt mir nicht nur das Schreiben. Ich liebe meine Lesungen. Und ich re­cherchiere gerne. Bei jedem Buch lerne ich dazu: Ich machte ein Praktikum im Tierpark Goldau, eine Schnupperlehre beim Tierarzt, half einem Bauern im Stall, durfte mit Schwingern in die Hosen steigen, mit einem Zimmermädchen durch die Hotelflure hetzen oder mit einem Dampfschiffkapitän über den Vierwaldstättersee fahren. Solche Erfahrungen bereichern mein Leben und erweitern meinen Horizont. Sie machen meine Bücher authentisch.

Jetzt schreibe ich einen Altersheimroman. Dafür – so dachte ich – müsste ich nicht gross recherchieren, weil mei­ne Mutter und mein Vater in Altersheimen gelebt haben. Ich habe mich viel zu oft in solchen Einrichtungen aufgehalten. Dachte ich. Und dann lud mich – ganz überraschend – das Haus zum Seewadel in Affoltern a.A. ein, als Bewohnerin einzuziehen und ein paar Tage den Alltag der Senioren mitzuerleben. Ein grosszügiges Angebot, das nur ein Heim machen kann, das stolz auf seine Arbeit und seine Mitarbeitenden ist.

«Ich stiess an die Grenzen meiner Fantasie»

So zog ich Ende November mit Sack und Pack in den Seewadel. Das Zimmer 316 war schon mit meinem Namen be­schriftet. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es wäre, wenn ich jetzt nur noch dieses eine Zimmer hätte, und zwar für mein ganzes restliches Leben, und ich von meinem Hab und Gut nur noch einen winzigen Bruchteil mitnehmen könnte. Was wäre mir dann wichtig? Ich stiess an die Grenzen meiner Fantasie. Aber ich konnte mich daran erinnern, wie schwer es meinen Eltern fiel, sich von lieb gewordenen Dingen zu verabschieden, von denen sie wussten, dass sie uns allen nichts bedeuteten und wohl auf dem Müll landen würden.

Ich lebte den Alltag der Bewohner mit. Ich ging zum begleiteten Malen, zum Jubilarenkonzert, zum gemeinsamen Singen, zum Jahreszeitentreff, erlebte den Besuch der Therapiehündin Chilly und lernte das Spiel Elfer raus, das hier alle mit Leidenschaft spielen.

Vor allem aber hörte ich zu. Man erzählte mir berührende und bewegende Geschichten.

Erstaunt erlebte ich Offenheit und Akzeptanz. Meine Tischgemeinschaft nahm mich wie selbstverständlich auf, ohne viel zu fragen, und ich freute mich auf jede Mahlzeit.

Und als ich dann heimging – was nahm ich mit? Auf jeden Fall viel In- spiration für mein neues Buch. Ich bekam Einblicke, die mir als Besucherin natürlich nie möglich gewesen waren. Ich habe mich erholt dank Entschleunigung. Jede Nacht schlief ich über zehn Stunden. Aber auch tagsüber war die Gangart langsamer, ruhiger, leiser. Ich entdeckte die Freude am Treppensteigen, weil ich die einzige Bewohnerin war, die das noch konnte. Ich sass in Gruppen und fühlte Samen und rätselte, zu welcher Frucht sie gehören könnten. Wir machten ein Apfelwettschälen, wobei es nur darum ging, wer den längsten Schalenkringel herstellen konnte. Dann las man uns Gedichte vor. Ich genoss das alles. Ich kam zur Ruhe. Und mir wurde beim Anblick der vielen Kranken und Leidenden bewusst, wie gesund und eigentlich auch jung ich noch bin. Ich beschloss, heimzugehen und zu LEBEN.

(Nebenbei: Wäre das nicht eine Marktlücke für leerstehende Altersheimzimmer? Gästebetten für gestresste Menschen? Entschleunigung und Erkenntnisse garantiert.)

Quelle: luzernerzeitung.ch

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