Kultur

Luzerner Theater: Der Sandmann steigt ins Wunderland

Ein mit rosafarbenem Stoff bespanntes Spinnennetz hängt über der Bühne des Luzerner Theaters, auf der E. T. A. Hoffmanns «Der Sandmann» in der Regie von Nicolas Charaux gegeben wird. Zu Beginn bewegt es sich langsam, stülpt sich auf zum Schlauch, zieht sich wieder zurück zum flachen Netz. Eine grosse Qualle, die atmet, sich aufpumpt, wieder leer wird. Fünfmal, sechsmal. Oder ist es doch nur ein Stab- und Stoffgerüst, das von der Technik bewegt wird?

Als es nach oben verschwindet, zeigt die Bühne (Ausstattung: Pia Greven) zwei riesige Hasen, die anmutig und überlebensgross an der Wand lehnen. Im Hintergrund an einem groben Tisch drei Wesen mit riesigem Puppenkopf, grauen Gesichtern und Kleidung, die in Falten an ihnen herunterhängt. Die Augen grosse, kalte Glaskörper, die das Gesicht beherrschen. Die drei, ein Junge, ein Mann, eine Frau, haben nichts zu tun. Gelangweilt baumeln sie mit den Beinen, kratzen sich am Kopf, popeln einander im Ohr, in der Nase, und fressen das Gefundene. Dräuende Musik dazu, eine ferne Melodie.

Die ersten Worte erst nach 20 Minuten

Nein, zu denen will man nicht eingeladen werden. Erst recht nicht, als plötzlich ein Knochen krachend von der Decke fällt. Und auch nicht, als der vierte Typ mit hämmernden Schritten die Treppe hochkommt. Dazu spielt die Zeit verrückt, mal tickt eine Uhr normal im Hintergrund, dann wird sie schneller, dann bleibt sie fast stehen. Die Zeit dehnt sich auch im Zuschauerraum, als erst nach 20 Minuten das erste Mal Worte zu hören sind. «Clara, wo bist du?» und «Nathanael?» hört man, maschinell verzerrt, geraunt. Unendlich oft wiederholt.

Dann alles neu. Die Puppen verschwinden nach unten, her­- vor kommen die Schauspieler ­Christian Baus, Lukas Darnstädt, Wiebke Kayser, Mira Rojzman und Julian-Nico Tzschentke in normalen Kleidern, ein bisschen spiessig, aber heutig. Und endlich: Nach 30 Minuten, sprechen sie Text aus Hoffmanns Erzählung «Der Sandmann», stark ­gekürzt. Der Anfang überlebt ­erkennbar, in dem Nathanael ­seiner Verlobten Clara von den traumatischen Erlebnissen seiner Jugend berichtet, in der der Advokat Coppelius die Familie tyrannisiert, Nathanael ihn als «Sandmann» enttarnt, der den Kindern die Augen ausschlägt. Und nach dessen letztem Besuch der Vater tot auf dem Boden liegt. Der zweite Teil wird radikal verkürzt. Kaum verständlich, dass Nathanael glaubt, Coppelius wiederzusehen, dass er seiner Verlobten Clara untreu wird, weil er sich in Olimpia verliebt, die Tochter seines Professors. Wer es nicht weiss, versteht nicht, dass Olimpia nur eine stumme, mechanisierte Puppe ist, die nur «ach» sagt und «Gute Nacht, mein Lieber», die Nathanael aber trotzdem vergöttert. Auf der Luzerner Bühne bleibt nicht viel mehr von ihr übrig als ein Lichtstrahl aus einem kleinen Kasten.

Treppen in die Unterwelt oder ins Unterbewusste

Die Schauspieler teilen den reduzierten Hoffmann-Text auf, sprechen ihn fast emotionslos, wie in einer szenischen Lesung. Der Kontrast könnte stärker nicht sein zwischen ihren trockenen Worten und dem albtraumhaften Geschehen um die Puppen auf der plüschigen Bühne mit den Alice-im-Wunderland-Hasen und den Treppen in die Unterwelt oder ins Unterbewusste. Hart geben sie die Stimme der vernünftigen Freunde, die Nathanael die Angst nehmen wollen und seine Visionen als Irrgebilde abtun.

Als die Puppen ein drittes Mal auftauchen, wird die Bühne zum Horrorkabinett. Die Puppen stopfen Nathanael Essen zwischen die Maskenlippen, verprügeln ihn mit dem Cricketschläger und fressen die Eingeweide der Hasen. Ist Nathanael der Sonderling, weil er komische Dinge sieht oder träumt? Oder sind die anderen die Kranken, die in ruhigstellen wollen? Ruhe findet Nathanael erst bei Olimpia. Jetzt zeigt sich, dass der Kasten ein leuchtendes Glas verbirgt, aus dem eine freundliche Stimme mit Na­thanel spricht. Sie heisst Olimpia, aber sie könnte auch Alexa oder Siri heissen wie die Sprachassistentinnen von Google und Apple.

Gekonnt gestellte Fragen

Charaux nimmt sich Zeit. Auch wenn der Abend nur anderthalb Stunden dauert, zieht er sich zuweilen wie Kaugummi. Doch der Schluss dreht gekonnt die Fragen um, wer hier Visionen und Ängste hat und wer Sonderling ist, der ausgemerzt werden muss. Und er deutet Olimpia als künstliche Intelligenz, als sprechenden Lautsprecher im Wohnzimmer. Das verwischt die Grenzen zwischen der Welt der Visionen und der Realität mit ihren scheinbar unumstösslichen Fakten. Und überrascht mit seiner Konsequenz, seiner Folgerichtigkeit, seiner Aktualität. Und ist viel näher bei uns als eine hölzerne Puppe, die mit den Augen wackeln und «ach, ach» sagen kann.

Weitere Vorstellungen ab diesem Donnerstag bis 19. Januar. Infos/VV: www.luzerntheater.ch.

Quelle: luzernerzeitung.ch

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