Kultur

Kino: Dann erledigen es halt die Frauen

Räuber und Polizei liefern sich eine wilde Verfolgungsjagd durch die Strassen Chicagos. In einer Lagerhalle wechseln die Gangster das Fahrzeug und wiegen sich in Sicherheit. Doch als das Tor aufgeht, ballert eine davor stationierte Sondereinheit ungezügelt drauflos. Bum – der Lieferwagen und die ganze Halle gehen nach einer gewaltigen Explosion in Flammen auf.

Mit einem solchen Actionszenario assoziiert man als Regisseur kaum Steve McQueen, dessen Sklavendrama «12 Years A Slave» 2014 drei Oscars gewann. Und doch, der vierte Kinofilm des britischen Künstlers und Filmemachers ist ein Heist-Movie, ein Film also, in dem es um einen gross angelegten Raub geht. Wie der Filmtitel suggeriert, sind es die «Widows», die Witwen, die im Zentrum stehen. Sie treten in die Fussstapfen ihrer Ehemänner, die gleich zu Beginn das Zeitliche segnen.

Man muss die Eröffnungssequenz relativieren: In einem rhythmischen Wechsel zwischen hektischen und ruhigen Szenen werden die Protagonistinnen in Beziehung zu ihren Ehepartnern eingeführt, bevor jene zu ihrem letzten Coup aufbrechen.

Chicago als exemplarische Grossstadt von heute

Veronica (Viola Davis) und Harry (Liam Neeson), der Anführer der Truppe, küssen sich inbrünstig in ihrem stylishen Penthouse. Die Verhältnisse der anderen Ehefrauen sind weit prekärer. Linda (Michelle Rodriguez) hat zwei kleine Kinder, ihr Mann zahlt die Miete für ihren kleinen Kleiderladen – nicht verlässlich, wie sich herausstellt. Die völlig unselbstständige Alice (Elizabeth Debicki) wird von ihrem zur Gewalt neigenden Partner beherrscht, und die Ehe Amandas (Carrie Coon) schliesslich scheint trotz Baby auf dem Arm am Ende.

Steve McQueen (Co-Drehbuch: Gillian Flynn, «Gone Girl») transferiert eine Geschichte aus seiner Jugend vom London der frühen 1980er-Jahre ins heutige Chicago und fügt dem sonst eher heiteren Genre einen stark sozialkritischen Unterton hinzu. Das passt dann schon eher zum 49-jährigen Londoner, der auch in «Hunger» und «Shame» über Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums in der Gesellschaft nachdachte – Filme über einen IRA-Häftling im Hungerstreik und über einen Sexsüchtigen, der sich in der Anonymität der Grossstadt verliert.

Bäuchlings, das Kinn in die Handflächen gestützt, habe er als 13-Jähriger zu Hause auf dem Teppichboden gelegen und sich Lynda La Plantes TV-Miniserie «Widows» angeschaut, schreibt der Regisseur in einer Pressenotiz.

«Die Show versetzte mich augenblicklich tief hinein in eine kriminelle Welt, in der die Frauen die verletzlichsten, am meisten übersehenen Figuren waren.»

Und so platzt plötzlich Jamal Manning (Brian Tyree Henry) in Veronicas Welt und verlangt von ihr die Millionen zurück, die Harry ihm gestohlen habe – Geld, das er dringend für seinen Wahlkampf braucht. Als erster Afroamerikaner kandidiert Manning gegen einen Vertreter der mächtigsten, natürlich weissen Familie um das Amt des Stadtrats im 18. Bezirk. Also gegen Jack Mulligan (Colin Farrell), der das Amt von seinem Vater Tom (grossartig: Robert Duvall) erben soll, wie schon der von seinem Vater.

Während die Mulligans am Rand des Bezirks leben, sind die Mannings tief in ihrem Viertel verankert – und bekannt für ihre krummen Geschäfte. Jamal hat sein Wahlkampflager in der Kirche aufgeschlagen, sein Bruder Jatemme (Daniel Kaluuya) erledigt für ihn die Drecksarbeit.

Korruption, Kriminalität, Segregation

Verstrickt in dieses Geflecht aus Verbrechen und Politik setzen die Witwen den letzten Plan ihrer Männer um, fein säuberlich festgehalten in Harrys Notizbuch. Die Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten und ethnischer Zugehörigkeit tun sich zusammen, weil ihnen gar nichts anderes übrig bleibt. Das ist kurzweilige Unterhaltung mit einem cool inszenierten Chicago. Und glänzend gespielt.

Insbesondere Viola Davis (Oscar für «Fences») changiert zwischen Trauer, Verletzlichkeit und kühler Selbstsicherheit, wie dieser Film, der während der Vorbereitung des Raubs die genretypische Ironie entwickelt, aber ohne die tiefe Liebe von Veronica zu ihrem Mann nicht funktionieren würde.

«Widows» hätte zu einem neuen Chicagoer Gangsterepos und modernen grossstädtischen Gesellschaftspanorama werden können. Doch wirken die über die gut zwei Studen überall verstreuten gesellschaftspolitischen Anspielungen tatsächlich etwas plakativ – ein ehemaliger Black Panther spricht im Radio, im afroamerikanischen Coiffeursalon läuft Michael Jackson, der Sohn von Veronica und Harry wird von einem Polizisten erschossen, als er nach seinem Führerausweis im Handschuhfach greifen will … Man versteht McQueen sehr wohl.

Doch um diesen vielfältigen Bezügen gerecht zu werden, reicht die Zeit nicht aus. Hier hätte sich doch eher das Format der Miniserie angeboten, wie es die Vorlage genutzt hat.

Quelle: luzernerzeitung.ch

Lesen Sie auch

CD-Tipps Klassik: Gepflegt statt frohgemut

freie-admin

Briefe von Elias Canetti: «Das Leben bröckelt von mir ab»

freie-admin

Schweizergarde verstärkt Präsenz in der Schweiz

freie-admin

Kommentieren

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.