Mit flächigen Synthesizer-Texturen beginnt ihr Album. Viel Hall, viel Erhabenes schwingt auf «Ataraxie» mit. Vereinzelt knallen Beats rein, aber zentral bleibt der sphärische Klangstrom, der mit Nuancen schillert. Auf «WAHDWTH» entfaltet sich eine dunkle Klanglandschaft mit Sounds und Noises, auf «III» kontrastieren entrückten Stimmenlagen mit deftigen Synthesizer-Stromstössen.
«Trapped in Mind» entfaltet einen hypnotischen Sog aus Synthie-Flächen, repetitiven Chorälen, Soundgeglitzer und Downbeat-Puls. Der vielleicht interessanteste Track kommt am Schluss: Auf «Albasty» spürt man, stärker als sonst, eine intervenierende Kraft, die mit schräg zischenden Sounds und rhythmischen Tribal-Versatzstücken die Musik besonders bezwingend macht.
In der Mädchenkantorei gesungen
Es ist nicht die übliche Popmusik, die uns auf dem ersten Soloalbum von Belia Winnewisser umschmeicheln würde. Dabei hat die 29-jährige Luzernerin mit den Bands Evje und a=f/m durchaus melodische und gefällige Sachen produziert. «Ich wollte diesmal musikalisch alles dürfen können, aber es sollten keine Songs sein. Auch auf Texte habe ich verzichtet. Dafür habe ich dem Unerwarteten Platz eingeräumt.»
Jeder der acht Songs hat seine eigene Stimmung und Qualität. Stilistisch ist das Album ein Konglomerat aus abstrakter Elektronik und popaffinen Einflüssen. Ein prägendes Element sind die Stimmen, die in langgezogenen Bögen eine asketisch fokussierte und oft sakral anmutende Tonspur legen. Belia Winnewisser hat schon immer gerne gesungen. Jahrelang war sie in der Mädchenkantorei Luzern dabei. Der chorale Gesang im Hallraum einer Kirche, das hat sich bei ihr tief eingebrannt. Zum Gesamteindruck gehören die träumerisch-melancholischen Stimmungen oder das Oszillieren flächiger Texturen im Kontrast zu unregelmässigen und von Sound-Details gezeichneten Beats und rhythmischen Akzenten.
Studium beeinflusst eigene Musik
Das Album ist in den letzten Monaten ihres Masterstudiums «Contemporary Arts Practice» an der Hochschule der Künste Bern (HKB) entstanden. Logisch, dass einiges von dem eingeflossen ist, was sie als Studierende technisch, musikalisch und theoretisch beschäftigt hat. Das Studium habe sie unter anderem gelernt, auf eine differenziertere Art zu hören, sagt Winnewisser. «Ich habe durch die Auseinandersetzung mit Partituren oder musikalischen Regeln auch zu klassischer Musik einen Zugang gefunden, den ich vorher so nicht hatte. Ich vermute, dass meine Intuition beim Produzieren mittlerweile auch von solchen Einflüssen gespiesen wird.»
Meistens beginnt Belia Winnewisser mit einem Beat oder Geräusch und schreitet dann kompositorisch vorwärts, indem sie die Sachen immer und immer wieder hört, um die nächste Entscheidung zu treffen, wie der Track weitergehen könnte. «Beim Produzieren stehst du konstant vor Entscheidungen. Wichtigstes Kriterium ist für mich, dass eine Spannung aufrechterhalten wird. Manchmal dauert es Stunden oder Tage, bis ich einen passenden Klang gefunden habe. Bei den rhythmischen Sachen bin ich in der Regel schneller als bei den Klängen.»
Ein wichtiger musikalischer Partner
Die ersten Solo-Produktionen hat Winnewisser während ihres halbjährigen Erasmus-Studienaufenthalts in Bergen/Norwegen realisiert. Drei Tracks erschienen vor einem Jahr als PE-010 auf einer Kassette zusammen mit der Künstlerin «L.Zylberberg» auf dem Luzerner Label Präsens Editionen – Herausgeberin des Magazins zweikommasieben –, wo sie nun auch ihr Debutalbum veröffentlicht hat. «In Norwegen, wo ich auf mich alleine zurückgeworfen war, fand ich Gefallen, solistisch zu arbeiten. Vorher hatte für mich dieser Prozess immer etwas Unfertiges. Ich brauchte andere Leute, um ein Stück abzuschliessen.»
Ein wichtiger musikalischer Partner war von Anfang an der Luzerner Musiker und Produzent Tom Kuhn, mit dem sie ab 2010 begann, im Studio zu arbeiten. «Durch ihn habe ich begonnen, selber Musik zu machen. Mit ihm teile ich auch den Proberaum, das ist super. Er hat alle Geräte und kennt sich extrem aus.» Mit Kuhn gründete sie die Band Evje, zu der auch Dominik Bienz und bis 2013 Samuel Savenberg gehörten.
Ein anderer Partner, mit dem sie vor zwei Jahren als Future R&B-Duo mit dem Namen a=f/m (ausgesprochen: «alpha equals f over m») explizit ein Pop-Projekt realisiert hat, ist Rolf Laureijs (Wavering Hands, Dans La Tente), der mit ihr in der gleichen Klasse an der HKB studierte. Die Musik des Duos ist – zu ihrer eigenen Überraschung – sehr gut angekommen. Die Tracks sind auch auf SRF 3 oder Couleur 3 gespielt worden. «Wir haben grenzenlos das Pop-Vokabular ausgenutzt, das hat Spass gemacht.»
Impulse von aussen
Entstanden während ihres Studiums, war a=f/m» wie ein Ausgleich zu den abstrakten und Sound-installativen Produktionen im Rahmen der Hochschule. Winnewisser liebt beide Welten: Pop und abstrakte Klangkunst, das Zugängliche und das Komplexe. Dabei inspiriert sie auch die theoretische Seite. Sie liest Bücher oder Essays über Musik und Kunst, wie etwa die Soundpraxis «Deep Listening» der Komponistin Pauline Oliveiros. Sie schätzt auch die Impulse, wenn sie ab und zu mit ihrem Onkel, dem Künstler Rolf Winnewisser, diskutiert.
Zurzeit macht die Musikproduzentin ein Praktikum in der Abteilung Audio-Layout beim Radio SRF. Dort kann sie konkret und kreativ an Jingles und andern musikalischen Designs arbeiten. Am liebsten hätte sie in der näheren Zukunft eine kleine Stelle in einem solchen Bereich, um daneben wieder selber musikalisch arbeiten zu können. «Mit einem 100-Prozent-Job wie jetzt ist das nicht möglich.» Also freut sie sich auf nächstes Jahr, wenn sie wieder mehr Zeit für sich hat und produzieren kann. Eines ist jetzt schon sicher: «Ich werde auch meine Solo-Tätigkeit fortsetzen.»
Belia Winnewisser: Radikale Akzeptanz, Präsens Editionen, Vinyl-LP/ Download. Hörproben und Bestellungen unter: https://praesenseditionen.bandcamp.com/album/radikale-akzeptanz
Quelle: luzernerzeitung.ch